Inklusion ist ihre Leidenschaft: Lena Öllinger

Inklusion ist Lena Öllinger ein Herzensanliegen – für das sie Tag für Tag kämpft und einsteht. Das tut sie nicht für sich, sondern für die anderen Menschen. Denn über sich sagt Lena, die selbst taub-blind und queer ist, dass sie privilegiert ist. Wie sie das meint, was aus ihrer Sicht für Inklusion getan werden muss und warum die Wirtschaft davon profitiert, erzählt die Beraterin und Accessibility Expertin u.a. für MyAbility im Gespräch mit diversityguide.at.
Lena, du bezeichnest Dich selbst als „Botschafterin für die Inklusion“. Was ist Dir dabei besonders wichtig?
Menschen mit Behinderungen erleben im Alltag unzählige Barrieren. Aktivitäten, die für die meisten von uns ganz einfach erscheinen, können für Menschen mit Behinderung zum Teil unüberwindbare Hindernisse darstellen. Barrierefreiheit bedeutet daher, dass jede:r, egal, mit welchen Herausforderungen / Anforderungen und Unterstützungsleistungen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Die Teilhabe ist ein Menschenrecht. Dieses ist in der Behindertenrechtskonvention, die alle Länder und auch Österreich 2008 unterzeichnet haben, festgelegt. In einer inklusiven Gesellschaft gibt es keine Barrieren. Jede:r hat das gleiche Recht und die gleichen Chancen, unabhängig vom Vorliegen einer Behinderung.
Wir leben in – auch wirtschaftlich – herausfordernden Zeiten. Warum ist es für Unternehmen so lohnend, sich ernsthaft mit Inklusion auseinanderzusetzen?
Barrierefreiheit und Inklusion sind auch ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor für Unternehmen. Bei fehlener Barrierefreiheit schließen sie nämlich Kund:innen sowie Mitarbeiter:innen aus. Ein erfolgreiches Unternehmen hingegen bietet Produkte und Dienstleistungen für die gesamte Gesellschaft an, für Junge, Alte, Männer, Frauen und andere Geschlechter, für Menschen mit und ohne Behinderungen, mit unterschiedlichen Interessen, Religionen, verschiedener Herkunft. Wenn ein Unternemen Personen aus diesen Gruppen kein adäquates Angebot macht, wird der Mitbewerb das Geschäft machen. Auch der aktuelle Fachkräftemangel trägt dazu bei, dass Inklusion für jedes Unternehmen wichtig ist, um Mitarbeitende zu finden.
Diversity Management wird noch bei weitem nicht umfassend umgesetzt und gerade aktuell oft in Frage gestellt. Worauf führst Du diese Skepsis zurück?
Inklusion bietet für alle Vorteile – ich verstehe nicht, warum Vielfalt nicht stärker gelebt wird, warum Diversität Angst macht. Ich halte das Bild nicht aus, dass Menschen mit Behinderungen arm und schwach seien. Das ist in Österreich weit verbreitet und durch Licht ins Dunkel weitergetragen. Durch dieses Bild entstehen aber die Mythen im Management. Da heißt es dann über Mitarbeitende mit Behinderungen: „Wir haben es einmal versucht und schlechte Erfahrungen gemacht.“ Dann frage ich: „Wie viele von euch haben schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht? Stellt ihr seither keine Männer mehr ein?“ Menschen mit Behinderungen, aber auch Frauen müssen mehr leisten, um Karriere zu machen. Die gleiche Qualifikation reicht nicht aus, um einen Job zu kriegen. Was sagt das über eine Gesellschaft aus? Das patriarchalische Bild zieht sich durch alle Diversity Dimensionen durch.
… und wird aktuell gerade wieder stärker. Wie siehst Du Diversity, Equity & Inclusion vor dem Hintergrund der Welt- und Europaweiten politischen Entwicklungen?
Die Entwicklungen sind furchtbar. Das Schwierige ist, dass die Vorurteile zum größten Teil aus Unwissenheit entstehen. Da geht es auch um Sensibilisierung, um einfache Antworten, um die Arbeit mit Ängsten. Da heißt es Aufklären, Courage Zeigen, nicht Mitschwimmen. Als einzelner, aber auch als Unternehmen haben wir Verantwortung dafür, wie es mit unserer Gesellschaft weitergeht. Aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen Menschen auszugrenzen, das darf nicht passieren.
Welche besonderen Inputs können Menschen mit Behinderungen in Teams einbringen?
Es gibt Menschen mit Behinderungen, die sind kompetent, viele sind gut ausgebildet und loyale Mitarbeiter:innen. Außerdem bringen Menschen mit Behinderungen neben ihrem Fachwissen auch Zusatzqualifikationen mit, die sie aufgrund ihrer Behinderung erworben haben. Viele Personen sind auf persönliche Assistenz am Arbeitsplatz und im Alltag angewiesen. Dadurch haben viele unternehmerische Fertigkeiten wie wirtschaftliches Denken und Personalführungskompetenz erworben, wenn sie die Assistent:innen direkt bei sich anstellen. Sie benötigen Work-Arounds, um ihren Alltag zu bewältigen. Wenn ich zum Beispiel irgendwo hin muss, plane ich anders. Auch wenn zum Beispiel die Handmobilität einer Person eingeschränkt ist, geht sie Dinge anders an. Die Lebenserfahrung prägt uns und kann uns flexibler und kreativer machen.
Inklusive Teams schauen mehr auf die Team-Mitglieder, achten auf gegenseitige Unterstützung und Ressourcenausgleich. Inklusion kann man nicht kaufen, Inklusion muss man machen, das ist ein Prozeß. Menschen mit Behinderungen bringen außerdem einen Ausbau der eigenen Barrierefreiheit des Unternehmens mit sich. Das ist wichtig, weil mit 28.6.2025 das Barrierefreiheitsgesetz gültig ist. Die Wirtschaft muss sich also verstärkt mit dem Thema Barrierefreiheit befassen. Dieses betrifft übrigens alle – 10% der Menschen brauchen sie, für 40% ist sie öfter einmal notwendig, für den Rest ist sie einfach praktisch. Am Praterstern gibt es von der S-Bahnstation einen Abgang mit Aufzug, der direkt zum Austria Campus führt. Manche Menschen brauchen ihn immer, weil sie im Rollstuhl sind, andere ab und zu, weil sie eine Verletzung haben – aber die ihn wirklich benötigen, sind die Businessmänner mit Handy … (lacht)
Was sind Deiner Erfahrung nach die größen Hürden für Menschen mit Behinderungen in Beruf und Gesellschaft?
Das ist der Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt. Aber auch die fehlende Barrierefreiheit. Und die Haltung. Die Frage ist, wie begegne ich Menschen mit Behinderungen. Das ist für viele schwierig, da es Berührungsängste und Unsicherheiten gibt. Das ist zum Teil gelernt über Licht ins Dunkel, ist aber auch ein kulturelles Thema. Ich reise viel und erlebe immer wieder, dass mir Menschen in anderen Ländern anders begegnen. In Österreich nimmt man mir beim Einchecken im Hotel den Bleistift aus der Hand. Das ist übergriffig.
Was braucht es für eine inklusivere Gesellschaft?
Inklusion ist auch eine Frage der Achtsamkeit. Ich bemerke eine gewisse Verrohung, ein Fehlen von Achtsamkeit. Ich glaube nicht, dass das generell böse gemeint ist. Es entsteht schon allein durch das Handy. Wenn ich reinschaue, kriege ich nicht mit, was um mich herum passiert. Wichtig ist zu sehen, was andere brauchen. Wesentlich ist die Frage, wie führt man eine Gesellschaft weg vom Almosen-Denken hin zu gleichwertigen Angeboten. Wie mache ich eine Welt für alle, Design für alle. Ein schönes Beispiel ist, dass in gut geführten Inklusionsschulen Kinder mit den am stärksten ausgeprägten Behinderungen zu allen Geburtstagsfeiern eingeladen werden. Das ist echte Inklusion.
Du sagst über Dich selbst, Du bist privilegiert. Dann fragt sich Dein Gegenüber vielleicht, wie kann das sein … wo Du taub-blind und queer bist, Migrationshintergrund hast und vielfach Ausgrenzung erfahren hast. Widerspricht das nicht Deiner Aussage?
Definitiv nicht. Ich lebe in einem freien, sicheren und reichen Land in Europa. Ich habe eine ausgezeichnete Ausbildung, eine langjährige erfolgreiche Karriere im Berufsleben hinter mir, eine wunderbare Familie und einen Freund:innenkreis. Und ja, ich habe auch eine Behinderung. Ich habe das Privileg, durch meinen Einsatz für Barrierefreiheit und Inklusion die Welt für alle und somit auch für mich, barrierefreier zu gestalten und somit alles zu machen, was ich mag. Ich kann den Satz nicht hören: „Lena, du bist so inspirierend.“ Ich mache so viele Fehler. Und ich arbeite, weil es mir Spaß macht, weil ich Geld verdienen möchte, damit mir nicht fad ist. Ich bin keine Heldin, weil ich Schifahre und dem gängigen Bild nicht entspreche. Der Anspruch, inspirierend und bewundernswert zu sein wäre zu wenig.
Du wurdest mit dem „Preis der Vielfalt“ im Rahmen des Diversity Balles 2024 in der Kategorie Einzelpersonen ausgezeichnet. Was bedeutet Dir dieser Preis?
Es hat mich überwältigt, dass jemand auf die Idee kam, mir einen Preis zu verleihen. Einen Preis dafür, dass ich mein Leben lebe – das war für mich schon etwas schräg. Aber ich weiß, warum mir die Juror:innen den Preis gegeben haben. Ich bin seit über 40 Jahren in unterschiedlichen Diversity-Bereichen tätig, bin selbst divers. Es war mir immer wichtig, marginalisierten Randgruppen Aufmerksamkeit in der Gesellschaft zu verschaffen. Ich habe mit Themen wie Migration, Suchtkrankheit, Abschiebehaft zu tun gehabt … da waren wir noch weit entfernt von Menschenrechten. Daraus ist das Interesse für Jus entstanden, das ich studiert habe, weil das Wissen notwendig war. Ich bin 1994 in den Bereich Menschenrechte gegangen, zur Caritas, habe das Ehrenamt bei Amnesty auf professionelle Beine gestellt. Daraus entstand immer mehr – interreligiöse, interkulturelle Dialoge, das erste interkulturelle Mädchenteam in Ottakring, die Unterbringung von Menschen mit Pflegebedarf, von Minderjährigen …
Aber ich habe mich wahnsinnig über den Preis gefreut. Ein solcher war aber nicht mein Antrieb. Ich will mein Leben so lange so leben, bis man mich nicht mehr braucht. Bis wir nicht mehr darüber reden müssen, was Inklusion ist, wie Bildung ausschaut, ob es Quoten braucht – quer durch alle Diversity Dimensionen.
Danke für das Gespräch, Lena Öllinger!